Festrede 2015: Dr. Thomas Rodenhausen

Dr. Thomas Rodenhausen ist Vorstandssprecher Harris Interactive AG. Er hielt die Festrede im Rahmen des Pharma Trend 2015.

Pharmazeutische Innovation aus Sicht des Marktforschers

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Sehr geehrte Damen und Herren,

Permanente Innovation zur Lösung existenzieller Probleme ist die erste Aufgabe der Pharmazie.  In kaum einer anderen Industrie schlägt die Pipeline neuer vielversprechender Produkte so direkt auf die Reputation und auf die Bewertung eines Herstellers am Kapitalmarkt durch wie in der Pharmabranche. Ohne Innovation gibt es kein Wachstum und keine nachhaltig haltbare Position am Markt.

Der Innovationsdruck wird von zwei Kräften besonders getrieben – erstens durch den Wegfall des Patentschutzes, durch den nur eine begrenzte Zeit zur alleinigen Vermarktung und damit zur Rückgewinnung teurer Entwicklungskosten und zum Erzielen von Gewinnen gewährt wird. Zweitens natürlich dadurch, dass es viele Krankheiten gibt, die entweder neu auftreten oder solche, die zwar schon lange bekannt sind, aber noch nicht geheilt oder wenigstens gelindert werden können. Ein aktuelles Beispiel sind die zunehmenden Antibiotikaresistenzen – Jedem Menschen ist der Nutzen ersichtlich, den die Pharmahersteller hier stiften können. In der Marketingssprache sind die „consumer needs“ die Heilungserwartungen kranker Menschen – es sind in jedem Einzelfall bange Hoffnungen existenzieller Natur und nicht die Sorge um noch weißere Wäsche oder der Wunsch, das Folgemodell einer bestimmten Autobaureihe möge einen etwas größeren Kofferraum, ein etwas besseres Beschleunigungsvermögen bei etwas gesenktem Verbrauch haben. Damit  will ich den Nutzen neuer Waschmittelvarianten, die noch weißer waschen oder eines verbesserten Folgemodells einer etablierten Autobaureihe nicht geringschätzen, aber es handelt sich hier in aller Regel um einen relativ gut planbaren, stetigen Innovationsprozess, der dazu führt, dass man zuverlässig das Jahr vorhersagen kann, in dem der neue Ford Focus, Opel Astra oder VW Golf am Markt erscheinen wird. Diese Art von Stetigkeit, Planbarkeit und zuverlässig fortschreibbarem Profit ist von Shareholdern leichter einzuschätzen und zu honorieren als diskontinuierliche, dafür manchmal aber disruptive Innovation.

Festrede Dr. Thomas Rodenhausen beim Pharma Trend 2015

Innovationen sind Problemlösungen – die Lösung großer, manchmal fast unüberwindlich erscheinender Probleme aber verlangt Kreativität, außerordentliche Anstrengungen in der medizinischen Grundlagenforschung, aber häufig auch zufällig erscheinende, plötzliche Fortschritte in ganz anderen Wissensgebieten. Eine solche innovative Problemlösung verlangt, an die Grenze des zurzeit Möglichen zu gehen, um diese Grenze schließlich zu überschreiten und eine neue Realität zu schaffen. Innovation und Kreativität sind nicht immer stetig, sondern oft sprunghaft – nicht unbedingt das, was Controller schätzen und was nach Quartalsberichten den Aktienkurs treibt. Damit möchte ich nun nicht sagen, dass die Aktienkurse von Autoherstellern nach Quartalsberichten oder der Ankündigung eines erneuerten Modells immer steigen und ich möchte auch nicht sagen, dass die innovative Lösung großer, existenzieller Probleme nicht innerhalb erfolgreicher profitorientierter Kapitalgesellschaften organisiert werden kann. Fest steht aber, dass das stetige Befüllen einer Pipeline von im Wortsinne notwendigen Pharmaprodukten keine leichte Aufgabe ist.

Dass die forschungsintensive Entwicklungsarbeit im Spannungsfeld des shareholder value nicht unproblematisch ist, belegt ein Zitat von Marijn Dekkers, dem Vorstandsvorsitzenden von Bayer, in der Montagsausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der sagt: „Wir müssen Geld verdienen mit unseren Produkten. Das führt dazu, dass nicht alle Medikamente entwickelt werden, die wir brauchen.“ und fordert: „Die Regierungen sollten die Pharmaindustrie wie in der Militärindustrie Auftragsforschung machen lassen.“

Wie kann nun die Marktforschung der pharmazeutischen Industrie bei der Erfülllung ihrer Innovationsaufgabe helfen? Zum Einen gibt es natürlich auch in der Pharmazie stetige Innovationen – z.B. eine andere Applikationsform desselben Medikaments, die dazu führt, dass die Einnahme oder Behandlung weniger häufig vorgenommen werden muss, oder dass es durch eine mechanische Vorrichtung verabreicht wird, so dass Fehldosierungen vermieden werden oder dem Patienten ein normaleres Leben ermöglicht wird. Dies sind Produktmerkmale, die vom behandelnden Arzt oder vom behandelten Patienten gut vorgestellt und beurteilt werden können. Die Marktforschung kann dem planenden Unternehmen hier zuverlässig Daten liefern, die Benefits und damit Entwicklungsziele priorisieren oder Zahlungsbereitschaften bereitstellen. Die Marktforschung ist auch gut darin, die Effektivität der Vertriebswege und des persönlichen Vertriebs zu messen und damit optimieren zu helfen. Mit anderen Worten, die Marktforschung ist sehr gut dazu geeignet, um die Bewährung von Produkten und Dienstleistungen im praktischen Leben der Nutzer präzise zu beschreiben.

Gespannte Zuhörer beim Pharma Trend 2015

Anders sieht es bei einer Innnovationen aus, die große medizinische Probleme lösen und hier vielleicht disruptiv genannt werden können – also Treatments, die endlich eine bisher unheilbare Krankheit heilen oder behandeln lassen. Hier ist Grundlagenforschung gefragt und die Marktforschung kann keine bedeutsame Rolle dabei spielen, neue Medikamente zu entdecken. Und solange individuelle Zahlungsbereitschaften für die Behandlung schwerer Krankheiten und Leiden keine wesentliche Rolle spielen soll, können Entwicklungsvorhaben auch nicht durch Marktforschungsdaten zu solchen Zahlungsbereitschaften priorisiert werden.

Vielleicht könnte aber der genannte Vorschlag, pharmazeutische Innovation als Auftragsforschung zu vergeben, die aus nicht privaten Budgets finanziert wird, den Weg eröffnen, Patienten und Betroffenen eine Stimme zu geben und Ihr Urteil darüber, wie wertvoll und wünschenswerte eine Krankheitsheilung oder –linderung oder eine lebensverlängernde Maßnahme ist direkt in die Priorisierung von Entwicklungsvorhaben einfließen zu lassen. Solche marktforscherisch erfassten und aggregierten Werturteile könnten helfen, staatliche Ausschreibungen pharmazeutischer Entwicklungsvorhaben besser auszusteuern und Fehlallokationen zu vermeiden.

Diese Art von breiterer gesellschaftlicher Teilhabe, die marktforscherisch organisiert ist, wäre auch ein Beitrag zur Lösung eines von vielen Menschen als tiefgreifend erlebten ethischen Widerspruchs. Dieser besteht darin, dass sich einerseits auch große Innovationen und die in der Entwicklung eingegangenen wirtschaftlichen Risiken von Hunderten von Millionen Euro pro pharmazeutischen Produkt wirtschaftlich rechnen müssen, es andererseits vielen Menschen nicht akzeptabel erscheint, dass mit der Heilung oder Linderung von Krankheiten ein wirtschaftlicher Gewinn erzielt wird. Unter diesem Widerspruch leidet die Reputation von Big Pharma wie meines Erachtens keine andere Industrie. Kaum ein Mensch, schon gar nicht Patienten und familiär Betroffene, würden den Nutzen von Medikamenten, die nach modernsten wissenschaftlichen Prinzipien entwickelt wurden, bestreiten. Dass damit aber auch wirtschaftliche Ziele von Pharmaunternehmen verknüpft sind, erscheint vielen als unauflösbarer Widerspruch und drängendes ethisches Problem. Dieses Problem könnte mit der Teilhabe von Patienten, Betroffenen und Entscheidern an der Priorisierung von Entwicklungszielen gelöst werden.

Pharma Trend 2015: Festrede von Dr. Thomas Rodenhausen

Hier sehe ich persönlich übrigens dringenden Kommunikationsbedarf der gesamten Pharmaindustrie, aber auch einzelner führender Hersteller gegenüber der breiten Allgemeinheit – welchen Wert – und hier meine ich keinen monetären Wert – teure pharmazeutische Forschung und Innovation der Menschheit schafft. Und auch hier kann eine international arbeitende Marktforschung helfen, geeignete Kommunikationsmaßnahmen zu gestalten und deren Publikation zu planen – um schließlich eine nachhaltige Reputationssteigerung der gesamten Industrie, aber auch besonders aktiver Einzelunternehmen belegbar zu erzielen.

Die Identifikation und Ehrung besonders innovativer und nutzenstiftender pharmazeutische Produkte ist natürlich auch das Ziel der heutigen Veranstaltung. Ich freue mich deshalb sehr, dass mit der Goldenen Tablette 2015 ein hochverdienter Beitrag zur Reputation der pharmazeutischen Industrie geleistet wird und wünsche allen Nominierten und natürlich den Gewinnern, dass Ihre Leistung weite Anerkennung findet!